Sheela Reddy
Das Arbeiten mit Wörtern
Die indische Schriftstellerin Baby Halder
Als Prabodh Kumar, Enkel von Premchand und früher Professor der
Anthropologie, wahrnahm, dass seine neue Haushaltshilfe zu viel
grübelte, schlug er eines der ältesten Heilmittel der Welt vor: Er bat
sie, eine Geschichte zu erzählen. Schweigend erledigte sie ihre Arbeit
– Schrubben, Waschen, Wischen, Kochen, – ehe sie sich zurückzog, um
ihren drei Kindern Essen zu geben.
Eine Geschichte zu erzählen, war dieser 29-Jährigen nicht ganz fremd.
Es hatte eine Zeit gegeben, als Baby Halder, noch ein Kind, neben ihrer
Kusine auf einer Matte lag und mehrere Nächte lang wie Scheherazade
eine Fabel erzählte, die sie irgendwo gehört hatte. Es mangelte ihr
auch nicht an Sujets. Jedes Mal, wenn sie zum Beispiel die
Zehn-Paisa-Münze anfasste, die ihre Mutter ihr in die vier Jahre alte
Handfläche gedrückt hatte, bevor sie für immer die Familie verließ,
drängten sich plötzlich Erinnerungen an sie und den kleinen Bruder, die
so plötzlich davongegangen waren, in ihrem Kopf. Oder an das Leben in
Kaschmir, wo ihr Vater einige Jahre als Soldat gedient hatte. Sogar
wenn sie ihr Geschichtslehrbuch las, löste dies ungebetene Bilder von
der Mutter aus, die, wie die Rani von Jhansi mit einem Baby an die
Hüfte gebunden, aus ihrem Leben verschwunden war.
Aber der Notizblock und der Stift, die Prabodh ihr gab, bargen
unbekannte Schrecken. Für Baby Halder waren – wie für unzählige Männer
und Frauen seit dem Anfang der Welt – Geschichten etwas, was man
bereitwillig hauptsächlich zur Schlafenszeit austauschte – Märchen über
schlaue oder einfältige Tiere, Verlierer und Gewinner, Könige und
Königinnen, in sicherer Entfernung vom Chaos drinnen und draußen, frei
von den vielen Mehrdeutigkeiten des Lebens – und doch
unerklärlicherweise läuternd. Aber was ihr Arbeitgeber vorschlug, war
etwas ganz anderes: „Schreib dein Leben auf“, sagte er zu ihr. Ihr
Leben aufschreiben!
Was gab es über ihre stumpfsinnige, nutzlose Existenz mit ihren miesen
Gewalttaten und Missständen zu sagen, so überaus öde, nur hin und
wieder erhellt vom Mut des Verzweifelten? Sie war dahin gegangen, wo
ihr Vater, ein ehemaliger Militärangehöriger und Fahrer, sie
hinbrachte, von Kaschmir nach Murshidabad und Durgapur. Ein mutterloses
Kind, das widerspruchslos einen schimpfenden Vater und eine Stiefmutter
erduldet. Und dann einen lieblosen Ehemann, vierzehn Jahre älter als
sie, bis sie eines Tages mit ihren drei Kindern in einen Zug nach dem
unbekannten Neu-Delhi stieg. Dort tat sie, was Tausende von Frauen aus
dem ganzen Land tun, die vor Armut und betrunkenen Männern flüchten:
Sie nahm eine schlecht bezahlte Arbeit als Haushaltshilfe an, und
manchmal verbrachte sie mit ihren Kindern die eisig kalten Winternächte
auf der Straße.
Aber Baby ging mit gewohntem Gehorsam an die von ihrem Arbeitgeber
gestellte Aufgabe und brachte die ersten Seiten so sorgfältig hinter
sich, als ob dies eine weitere Routinearbeit in ihrem ausgefüllten Tag
sei. Es war ihr alles so peinlich. Es war fast 20 Jahre her, dass sie
in ein Heft geschrieben hatte, und sie hatte die Rechtschreibung
vergessen. Noch schlimmer, die Kinder fragten sich, warum sie – an
ihrer Stelle – in ein Schönschreibheft schrieb. Aber Prabodh behielt
schließlich doch Recht. Die Wörter begannen, ihre magische Wirkung zu
entfalten.
Gewohnt mit Worten umzugehen, die er sowohl für den Lebensunterhalt als
auch zur Muße handhabte, kannte Prabodh ihren Wert. Tatsächlich hatte
er, als er zum ersten Mal entdeckte, wie sie ihre Hände unnötig langsam
bewegte, während sie seine Bücher abstaubte, ihr prompt die Benutzung
der Bibliothek angeboten. Das erste Buch, das sie zögernd aus dem Regal
nahm, war Taslima Nasrins Amar Meyebela (Meine Mädchenzeit).
Sie hätte mit keinem geeigneteren Buch beginnen können. Es war, als ob
sie ihr eigenes Leben las. Es gab also eine Schriftstellerin, die ihre
Wut und die Demütigung beschrieb, als Frau in einer armen Gesellschaft
geboren zu sein. All die aufgestauten Gefühle, die Baby dazu getrieben
hatten, in einen Zug mit einem unbekannten Ziel zu steigen, erhielten
plötzlich eine neue Bedeutung.
Zwischen ihren Hausarbeiten und spät in der Nacht, nachdem sie ihre
Kinder zu Bett gebracht hatte, las sie pausenlos. Andere Bücher
schlossen sich in schneller Folge an: Romane von Ashapurna Debi,
Mahasweta Devi, Buddhadeb Guha. Gewiss hatten die Bücher Baby aus ihrer
unreflektierten Trägheit aufgerüttelt, aber Lesen allein ist noch kein
ausreichender Antrieb, um mit dem Schreiben zu beginnen. Wenn Prabodh,
der sich bis zur Mitte der 1960er Jahre nebenbei mit der
Schriftstellerei beschäftigt hatte, und seine beiden Freunde, Ashok
Seksariya und Ramesh Goswami, sie nicht angespornt hätten, hätte Baby
vielleicht nie die Autorin gefunden, die in ihr steckte.
Aalo Aandhari (auf Englisch als A Life Less Ordinary
veröffentlicht) ist ein schmales Buch, das mit ihrer Kindheit bis zu
ihrer Heirat im Alter von 12 Jahren und 11 Monaten beginnt. Es fährt
mit dem groben Hineingestoßenwerden in ein Erwachsenenleben fort, in
dem sie vergeblich versucht, zu Rande zu kommen – mit einem
rücksichtslosen und ungebildeten Mann und der Belastung, drei Kinder
fast allein zu erziehen, bis sie schließlich in einen Zug steigt, der
nach Faridabad bei Neu-Delhi fährt. Und schließlich beschreibt es ihren
Kampf, einen Lebensunterhalt zu finden, und das unerwartete Ereignis,
eine Schriftstellerin in sich zu entdecken.
Es ist ein erstaunliches Buch – hauptsächlich in der ersten Person
verfasst, außer, wenn Baby Halder in seinen ergreifendsten Momenten in
die dritte Person verfällt, als ob sie intuitiv gewusst hätte, dass es
die Vermittlung dieser hoch emotionalen Stellen erforderte, von ihrer
eigenen Erzählung Abstand zu gewinnen. Es ehrt Prabodh (er übersetzte
das Manuskript aus dem Bengali-Original ins Hindi), dass er den Weg des
geringsten Eingreifens gewählt, die Schilderung nur von chronologischen
Verwirrungen gereinigt hat und Baby mit ihrer eigenen, sehr originären
Stimme sprechen ließ. Das Bemerkenswerteste an Babys ungewöhnlichen
Memoiren ist ihr Selbstporträt: ihre auf wenigen Seiten stattfindende
eindrucksvolle Metamorphose von einer ziellosen, passiven Frau, die
sich vorbehaltlos den Dingen ergibt, die das Leben ihr zuteilt, in eine
Autorin, die fähig ist, all die quälenden, unterdrückten Erinnerungen
in allen Einzelheiten wachzurufen, die ihr Leben ausmachten.
Die Memoiren beginnen trügerisch in einer Weise, wie sie im Lehrbuch
steht, mit der Familie in Jammu und Kaschmir und Dalhousie, wo der
Vater als Militärangehöriger Dienst tat. Baby Halder macht einen
halbherzigen Versuch, die Schneeflocken, Blumen und sogar einen
Regenbogen in den Bergen zu beschreiben. Aber es ist von Anfang an
klar, dass dies kein übliches kleines Mädchen ist, das von hübschen
Blumen und Regenbögen erzählt, sondern eine reife Stimme mit einem
Erwachsenenverständnis für die raue Realität.
In der stumpfen, ausdruckslosen Weise einer schwer misshandelten Person
beschreibt sie die Schwierigkeiten, denen ihre Familie ausgesetzt war,
als sie von ihrem Vater nach Murshidabad gebracht wurde, wo sie sich
allein durchschlagen mussten, weil der Vater sie verließ. Die
vierjährige Baby vermisste nichts, und die erwachsene Baby skizziert
mit der Direktheit eines Kindes die lapidaren Wahrheiten ihres Daseins:
den verzweifelten Versuch ihrer Mutter zurechtzukommen, den
Stolz, der diese daran hinderte, entweder aus dem Haus zu gehen, um
Arbeit zu suchen, oder von der Wohltätigkeit Verwandter zu leben, die
Art, wie sie ihre Frustration an ihren Kindern ausließ; den Vater, der
sporadisch erschien, um Versprechungen zu machen, und wieder
verschwand, bis er schließlich durch den Druck der Familienältesten
gezwungen wurde, seinen Job aufzugeben und nach Hause zurückzukommen.
Es war ein mürrischer Mann, der heimkehrte, ein Vater, vor dem die
Kinder zurückschreckten.
Die Geschichte entfaltet sich auf den nächsten Seiten so, wie sie all
die Jahre in Babys Seele gelegen hatte, ungeschliffen und unverdaut.
Ihrer beiläufigen und merkwürdig platten Schilderung kann man
entnehmen, dass Baby, anstatt zu versuchen, ihre sinnlose Kindheit zu
verstehen, bis dahin den größten Teil ihres Lebens bemüht gewesen war,
sie zu vergessen. Die Ereignisse, die sie so schonungslos wiedergibt,
sind in ihrer willkürlichen Auswahl geradezu erschreckend. Ihre Mutter
verlässt sie ohne Erklärung und nimmt nur das jüngste Kind mit. Eine
ältere Schwester wird ebenso unvermittelt verheiratet. Ihr Vater
schlägt Baby, als sie gesteht, dass es zu Hause nichts zu essen gibt.
Sie erinnert sich an die Spiele, die sie in der Schule gern spielte, an
den älteren Bruder, der von zuhause ausriss, an die Stiefmutter, die
sie schlecht behandelte, und an ihren Vater, der wegging, um eine neue
Arbeit in Dhanbad zu finden. Und dann, mit dem fehlenden kritischen
Urteilsvermögen eines Kindes, finden wir sie plötzlich mit einem
jüngeren Bruder weinend auf der Eingangsstufe sitzen, weil beide keine
neue Kleidung zum Durga-Puja-Fest haben. Es ist, als ob Baby, nachdem
ihr Stift und Papier gegeben und sie gebeten wurde, ihr Leben
aufzuschreiben, mit der Genauigkeit eines Chirurgen und dessen
professionellem Mangel an Rührseligkeit gewissenhaft all die
Verletzungen und Erschütterungen hervorholt, die ihre Kindheit
ausmachten.
Aber es gibt eine wahrnehmbare Veränderung, wenn Babys Erzählung
fortschreitet. Wir sehen nun, wie sie jetzt bei Ereignissen verweilt,
statt an ihnen vorbeizuhasten: Es scheint, dass all jene quälenden
Erinnerungen, die sie vorher niemandem anvertraut hatte, nicht einmal
sich selbst, nur die heilende Berührung ihrer eigenen Worte brauchten,
um für immer aufzuhören, sie zu quälen.
So zum Beispiel liegt sie, 11 oder 12 Jahre alt, in einem Bett im
Krankenhaus, in dem sie wegen einer Depression behandelt wird und zum
ersten Mal ihre Periode hat: „Während ich immer noch im Krankenhaus
war, wachte ich eines Tages am Morgen auf und bemerkte, dass mein Laken
feucht von Blut war. Ich fürchtete mich und begann zu weinen. Die
Schwester hörte mich und sah nach, was geschehen war, aber ich war so
verängstigt, dass ich nichts sagen konnte. Dann sah sie das Laken und
fragte mich, ob mir so etwas schon früher passiert wäre. Ich sagte
Nein, und sie verstand den Grund meiner Furcht. Ein paar Leute hatten
sich versammelt, und sie alle lächelten. Patientinnen in den anderen
Betten versuchten, mir zu erklären, es gebe keinen Grund zur
Sorge, das geschehe, wenn Mädchen erwachsen werden.“
Baby bemerkt jetzt, dass sie selbst über die Auswirkungen ihrer
Pubertät nachdenkt: Ihr Vater kümmerte sich plötzlich um ihre
Bedürfnisse. Man ließ ihr sogar Dinge durchgehen, die sonst als
Unverschämtheit ausgelegt worden wären. Sogar die Jungen ihrer
Nachbarschaft schenkten ihr neue Aufmerksamkeit
In Schwung gekommen, ist Baby jetzt in der Lage anzuhalten und die
Menschen um sie herum genauer zu betrachten. Sie hat nun die Ruhe sich
umzuschauen, nachdem sie die Vergangenheit mit ihren Wörtern
durchbrochen hat. Der flache monotone Klang ist verschwunden und wird
durch einen neuen Scharfsinn ersetzt. Sie pausiert, um eine
Schulkameradin, Krishna, zu beschreiben. „Sie war klein und hellhäutig
und hatte einen leicht schiefen Zahn, aber sie sah trotzdem gut aus.
Ihre Schwester, Mani, war auch reizend.“ Leidenschaftslos beschreibt
Baby die Szene: die zwei hübschen, lachenden Schwestern und sie selbst.
„Wir drei nahmen zusätzlichen Unterricht zusammen. Ich erinnere mich
daran, dass es einen Tag keine Elektrizität gab und wir beim Licht
einer Lampe saßen und lernten. Ich versuchte, die Lampe ein bisschen zu
bewegen, und das heiße Glas versengte das Knie des Lehrers! Ich
fürchtete mich zu Tode! Ich dachte, nun würde er es Baba sagen und dann
würde ich Prügel bekommen – aber er tat nichts dergleichen. Er blieb
einfach ruhig. Obwohl er dem Vorfall keine Bedeutung beimaß, fuhren
Krishna und Mani fort, mich daran zu erinnern und mich zu necken.“ Nur
ein paar Seiten vorher wäre Baby von diesem Vorfall zu einem anderen
gesprungen, der damit nicht zusammenhing. Aber jetzt ist sie in
der Lage, Verbindungen herzustellen und vermutet, dass die Schwestern
es deren Vater gegenüber erwähnt haben müssen, der dann ihrem Vater
riet, mit dem kleinen Mädchen nicht zu streng zu verfahren.
Einfühlsam, ohne eine Unze Selbstmitleid, hat Baby ihre eigene
Geschichte betreten und stimmt dem Vater ihrer Freundinnen zu, dass
ihre Kindheit an dem Tag endete, als ihre Mutter von zu Hause wegging.
„Baba erlaubte mir nicht, Armreifen zu tragen; ich durfte mit niemandem
reden, mit niemandem spielen und oft nicht einmal das Haus verlassen.
Ich fürchtete mich so davor, geschlagen zu werden, dass ich nur
Gelegenheiten abpasste hinauszugehen und zu spielen, wenn ich wusste,
dass er nicht da war und mich nicht aufhalten konnte … Manchmal, wenn
ich über Ma nachdachte, meinte ich, hätte uns Baba an ihrer Stelle
verlassen, dann ginge es uns nicht so schlecht. Was hatte Baba uns
schließlich gegeben, außer Furcht?“
Und dennoch. Wenn Babys Vater im Buch auftaucht, ist er nicht nur der
Buhmann. Wenn die Wörter zu fließen beginnen und die Erzählung ihre
frühe Naivität verliert, entwickelt sich Baba zu einem komplexen
Charakter: ein unbeherrschter Mann, aber sentimental und zuweilen
liebevoll und zu unerwarteter Zärtlichkeit fähig.
Nach dem ersten Drittel des Buches ist Baby bereits eine gereifte
Autorin, die abschweift, so oft es ihr gefällt – manchmal spielerisch,
manchmal nachdenklich, und die mit der Gewandtheit eines erfahrenen
Schriftstellers zu ihrer Schilderung zurückkehrt. Wie weit Baby seit
dem Beginn ihrer einleitenden Seiten vorangekommen ist, wird jetzt
offensichtlich. „Arme Baby! ... Baby erinnert sich an ihre Kindheit,
sie genießt jeden Augenblick, beleckt sie genau wie eine Kuh ihr
neugeborenes Kalb und kostet jede Stelle.“
Es muss ein aufregender Moment für Prabodh gewesen sein, der ihr
Manuskript Seite für Seite mit wachsender Bewunderung las, als er
diesen Satz sah. Mit jenen Worten hatte Baby unwissentlich die Freuden
eines jeden Schriftstellers entdeckt: die Stärke, bei der kurzen
Vorstellung des Lebens zu verweilen. Mit dem Stift und dem Notizblock
hatte Prabodh Kumar ihr die göttliche Kraft geschenkt, ihr eigenes
Selbst Schicht für Schicht zu entdecken.
Dieser Text, der von Annemarie Hafner ins Deutsche übersetzt wurde, erschien als Vorwort zur englischen Ausgabe von Baby Halders Lebenserinnerungen („A Life Less Ordinary“, Neu-Delhi 2006). Eine deutsche Übertragung des Buches wird im Oktober 2008 unter dem Titel „Kein ganz gewöhnliches Leben“ im Heidelberger Draupadi Verlag erscheinen. Zwischen dem 15. und dem 31. Oktober 2008 wird die Autorin in Deutschland sein. Geplant sind Veranstaltungen mit ihr in Frankfurt, Düsseldorf, Krefeld, Halle, Göttingen, Kiel, Berlin und Heidelberg.